Der blaue Ford holperte über die ungeteerte Landstrasse.
Es wurde bereits dunkel und Ralph Curtis schaltete die Scheinwerfer
ein. Er war auf einer Geschäftsreise um die Produkte der
Firma Molton & Frew in London auch im oberen Teil Englands,
in Schottland, zu verbreiten. Er wollte dem Verkehr ausweichen
und fuhr deshalb nicht auf der Schnellstrasse, sondern auf Nebenstrassen
in Richtung Norden. Er hatte keine Strassenkarte und hatte sich
zu allem Unglück in Nacht und Nebel verirrt. Schon seit einer
Stunde fuhr er dauernd auf dieser Nebenstrasse geradeaus ohne
auch nur durch die kleinste Ortschaft zu kommen. Verbissen steuerte
er den Wagen in die vom Licht durchschnittene Dunkelheit. Die
Nächte hier waren kalt und er hoffte, dass das Benzin reichen
würde. Ausser einem Hasen, der eilig über die Strasse
gehoppelt war, traf Mr. Curtis kein Lebewesen an. Jetzt fuhr er
durch einen Tannenwald und betete, dass danach eine menschliche
Siedlung folgen würde. Nur einmal sah er einen ganz schwachen
Lichtschimmer. Er konnte sich aber auch getäuscht haben.
Man konnte nicht behaupten, dass Ralph Curtis Angst gehabt hätte,
doch ein beklemmendes Gefühl konnte er nicht abstreiten.
Nach einer Viertelstunde begann der Motor verdächtig zu knattern.
Der Verdacht bestätigte sich. Das Auto kam nämlich nur
stossweise voran und blieb dann stehen. Der Treibstoff war aufgebraucht
und Ralph befand sich allein in dunkler Nacht, abseits der Zivilisation,
an einem unbekannten Ort irgendwo in Schottland oder noch England.
Ratlos blickte er sich um. Zuerst sah er Wald, gleich neben der
Strasse. Dann blickte er nach links, aber dort verlor sich sein
Blick in der Dunkelheit. Danach schaute er nach vorn der Strasse
entlang. Stach dort nach der Kurve in einiger Entfernung nicht
ein Kamin aus dem schwachen Mondlicht, das durch den Nebel gedrungen
war? Waren dort vorne nicht die Umrisse von Häusern zu erahnen?
Ralph jubelte leicht für sich. Er schlüpfte in seinen
Mantel und wollte sich zu Fuss auf den Weg machen, als er sich
erinnerte, dass noch ein wenig Benzin in einem Kanister im Kofferraum
vorhanden war.
Es war höchstens noch ein knapper halber Liter, den er in
den Tank füllte. Er drehte den Zündschlüssel und
der Wagen fuhr an. Vorsichtig gab er mehr Gas. Nach sechshundert
Metern blieb der Wagen allerdings wieder stehen. Das Dorf war
nicht mehr allzuweit. Er sah schon einige Lichter. Eifrig schob
er sein Fahrzeug. Dann hatte er Glück; die Strasse führte
bergab und er konnte das Auto rollen lassen. Nach einer von Stauden
begrenzter Kurve kam er an einer alten, unlesbaren Ortstafel vorbei.
Die Silbe "vil" war nur noch zu lesen. Sonst war die
Farbe abgeblättert und morsches Holz kam zum Vorschein. Nach
den ersten Häusern war die Strasse wieder gerade und Mr.
Curtis schob sein Auto bis zu einem alten, hölzernen Gebäude,
das mit "Gasthaus" auffällig beschriftet war. Es
brannte Licht, aber Stimmen konnte er keine vernehmen. Da und
dort sah er Gesichter, die hinter Vorhängen hervorlugten.
Es waren ausnahmslos Gesichter von älteren Frauen und Männern.
Das Dorf wirkte ungepflegt und liederlich in der Architektur.
Ralph Curtis ergriff die Türklinke der Wirtshaustüre
und öffnete sie behutsam. Sie quietschte in den Angeln, als
ob sie schlecht geölt wäre. Doch sie liess sich einladend
leicht öffnen.
Obwohl im Gasthaus überall Gläser auf den Holztischen
standen und die Luft verqualmt war, war kein Mensch zu sehen.
Ralph Curtis sah sich um, danach rief er: "Hallo, ist hier
jemand?" Hinter der Theke war eine offene Hintertür,
die zu einem dunkeln Gang führte. Mr. Curtis glaubte, dort
Schatten umherhuschen zu sehen. Dann vernahm er schwere Schritte
und ein dicklicher Mann mit einer Schürze und misstrauischer
Miene trat ein. Er war offenbar der Wirt. Mr. Curtis hielt es
für besser, erst einmal etwas zu trinken zu bestellen: "Einen
Whisky Soda bitte," sagte er höflich und hockte auf
einen Holzstuhl an der Bar, gegenüber des Wirtes. Ohne ein
Wort zu sagen goss der Wirt das Getränk ein.
"Ich heisse übrigens Ralph Curtis, komme von London
und..."
"Angenehm," stoppte ihn der Wirt.
"Also, hat es hier im Dorf eine Tankstelle? Meinem Auto ist
nämlich das Benzin ausgegangen." Der seltsame Wirt schaute
ihn kurz an und ordnete dann einige Flaschen im Gestell.
"Ob es hier eine Tankstelle gebe?!" wiederholte Mr.
Curtis ungeduldig.
"Ja," meinte der Wirt lakonisch. Voller Ungeduld schob
Mr. Curtis dem Wirt ein Geldstück zu. Nach kurzer Zeit hatte
sich der Wirt entschlossen: "Immer der Hauptstrasse entlang.
Bei der ersten Querstrasse links. Das erste Haus dort ist es."
Ralph Curtis trank aus, verliess die Wirtschaft und ging in angegebener
Richtung die dunkle, ungeteerte Strasse entlang. An einigen Stellen
war sie wegen dem Licht in den Häusern schwach beleuchtet.
Immer wenn er zu einem Fenster heraufschaute, sah er einen Kopf
hinter dem grobstoffigen Vorhang verschwinden. Unbeirrt ging er
weiter. Schliesslich war er fremd hier und in einem solch abgelegenen
Dorf, das seine eigene überlieferte Kultur haben würde
und ohne Zivilisation und Fortschritt der Grosstädte war,
waren die Leute nun mal so. Er überlegte, wie sich die für
diese Menschen unbekannten und deshalb Vorteil bringenden Produkte
der Firma Molton & Frew verkaufen lassen würden.
Endlich hatte er die Seitenstrasse erreicht. In ihr war es sehr
finster, denn kein Licht brannte. Trotzdem erkannte er die Umrisse
einer Tankstelle und schritt auf sie zu. Es war aber kein Tankwart
oder Garagist zu sehen und so klopfte er an der Tür nach
den Tanksäulen. Immerhin war den Leuten die Erfindung "Auto"
nicht unbekannt. Irgendetwas bewegte sich hinter der Tür,
das konnte er hören, doch niemand öffnete. Mr. Curtis
entschloss sich, wieder zum Wirt zurückzugehen und dort ein
Zimmer zu mieten. Er wandte sich vor der Tür ab und ging
denselben Weg retour. Als er in die Hauptstrasse einbog, waren
alle Lichter erloschen und die Strasse lag im Dunkeln. Trotzdem
fühlte er sich von den Fenstern her beobachtet. In einiger
Entfernung sah er noch ein bisschen Licht, welches vom Gasthaus
ausging. Er steuerte darauf zu.
Plötzlich hörte er vor sich einen dumpfen Schlag, dann
stolperte er über etwas hartes und spürte einen stechenden
Schmerz am Bein. Er rappelte sich wieder auf und ging weiter.
Die Erfindung "Messer" war ihnen auch nicht unbekannt.
Bevor er ins Gasthaus eintrat schaute er nach dem Auto. Die Tür
war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie um seine Ausweise
aus dem Ablagefach zu nehmen. Sogleich huschte eine dürre,
kleine Gestalt hinaus und verschwand unerkannt im übernächsten
Haus. Mr. Curtis wusste nicht, was er davon halten sollte und
schloss die Autotüren ab.
Der Wirt stand immer noch hinter der Theke und liess hastig halbvolle
Gläser verschwinden. In der Zwischenzeit musste jemand hiergewesen
sein. Ralph Curtis erkundigte sich, ob er hier übernachten
könne. Der Wirt teilte ihm ein Zimmer zu und führte
ihn gleich hinauf. Der Wirt öffnete die Tür zu der kleinen
Kammer und ging dann wieder hinunter. Das Zimmer war ziemlich
klein und hatte ein schmutziges Fensterchen, das zum Hof zeigte.
Das Bett war frisch bezogen. Im Kleiderschrank stand ein Koffer
und einige Herrenkleider hingen darin. Kurz gesagt: das Zimmer
sah, bis aufs Bett, benutzt aus oder wenigstens so, als ob es
überstürzt verlassen wurde. Ralph Curtis untersuchte
das Nachttischchen. In einer Schublade fand er einen Zettel, wahrscheinlich
von seinem Vorgänger:
"Ich glaube, heute haben diese Verrückten es erreicht.
Ich höre schon die Schritte auf der Treppe."
Ralph Curtis war weder leicht- noch abergläubig und so machte
er sich keine Gedanken darüber. Er stieg die Treppe hinab,
denn er hatte noch einige Fragen an den Wirt.
Er bestellte ein Flasche Wein und spendierte dem Wirt auch etwas.
"Übrigens," begann Mr. Curtis, "ich habe den
Tankwart nicht gefunden, aber ich hoffe, ich habe morgen mehr
Glück. Sagen Sie mal, sind wir zwei die einzigen im Dorf?"
Der Wirt antwortete nicht. "Wo ist der Tankwart denn? Fort?
In den Ferien?"
"Nein, er ist nicht da."
"Aber wo? Was ist mit ihm los?"
"Wir haben ihn umgebracht," meinte der Wirt gelassen.
"Mensch, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich will doch
hier keine Wurzeln schlagen sondern muss weiter. Sagen Sie mir
endlich, wo hier ein Tankwart ist!" Der Wirt blieb stumm.
"Hat es in der Nähe ein anderes Dorf?"
"Nein."
"Gibt es hier ein Postamt? Dann werde ich Hilfe herholen!"
drohte Mr. Curtis.
"Ein Postamt hat es, aber den Postbeamten haben wir umgebracht."
"Stellen Sie sich doch nicht so dumm an!" Wutentbrannt
zog er sich ins Zimmer zurück.
Gleich legte er sich ins Bett, aber noch konnte er nicht einschlafen.
Er überdachte seine Lage und wie es dazu gekommen war. Morgen
würde sicher alles anders aussehen und er würde dann
weiterfahren können. Dann fiel er in tiefen Schlaf und erwachte
erst am frühen Morgen wieder. Sogleich zog er sich an und
ging hinunter um zu frühstücken. Heute war ein anderer
Wirt hinter der Theke. Wo denn der andere sei, fragte Ralph.
"Wir haben ihn umgebracht," meinte der Wirt.
Mr. Curtis machte sich auf den Weg zur Garage. Unterwegs sah er
einige Leute, die ihn musterten, aber nicht grüssten. Die
Tankstelle sah immer noch geschlossen aus, was sich auch bestätigte.
Jedenfalls machte keiner die Tür auf. Er wusste langsam,
dass er hier sich alleine helfen musste. Er ging aufs Postamt.
Dort war natürlich ein Postbeamter, wider dem, was der Wirt
behauptete. Er gab ein Telegramm an das Geschäft auf, worin
er seine missliche Lage mitteilte. Jedoch war er sich, angesichts
des Verhaltens des Pöstlers nicht so sicher, dass es sein
Ziel erreichen würde. Nachdem er das kleine Postamt verlassen
hatte, das übrigens auch nicht mit dem Ortsnamen versehen
war, war es bereits Mittag und Ralph ging ein Lebensmittelgeschäft
aufsuchen. Er fand wohl eins, aber es war geschlossen und er war
gezwungen im Wirtshaus zu essen. "Der Wirt soll mir bloss
nicht erzählen, man hätte den Händler umgebracht,"
dachte sich Mr. Curtis. Gedankenverloren schlenderte er die staubige
Strasse entlang. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen. Er
verschwand hinter der Kurve, die sich zwischen Brombeersträuchern
den leichten Hang hinaufwand, dann folgte der Wald, woher er gekommen
war. Er fragte sich, warum er nicht einfach zurückging. In
der anderen Richtung endete sein Blick beim Horizont, der aus
einem steinigen Hügel gebildet wurde. Er betrachtete die
vom leichten Wind verwehte Reifenspur und folgte ihr ins Dorf
zurück. Bald würde die Spur ganz weg sein. Er durchdachte
seine Lage.
Schliesslich endeten die Abdrücke vor der Gaststätte
und er studierte die alte Speisekarte vor der Tür. Er hatte
sie schon bei der Ankunft bemerkt, aber das Auto hatte ihn den
Zugang versperrt - jetzt nicht. Und da fuhr er zusammen: Sein
Auto war weg. Es war ihm erst gar nicht aufgefallen, und ihm wurde
endgültig bewusst, dass er von hier nie wegkäme. Betrübt
ging er essen. Der erste Wirt war wieder da, und Ralph Curtis
war irgendwie beruhigt. Als der Wirt das Gemüse und Fleisch
brachte, fragte Mr. Curtis nach dem Lebensmittelhändler.
"Der? Den haben wir schon lange umgebracht und noch keinen
anderen gefunden. Möchten Sie ihn etwa ersetzen?"
"Wahrscheinlich kann er nichts dafür," tröstete
sich Curtis und ass schweigend zu Ende. Dann ging er aufs Zimmer,
um Mittagsschlaf zu halten. Er konnte aber nicht recht einschlafen.
Zuviel ging ihm durch den Kopf. Er döste vor sich hin und
starrte ein Bild an der Wand an. Es zeigte einen alten, runzligen
Mann, der mit einem Reisigbesen auf der Strasse, es war die hiesige
Dorfstrasse, eine Spur verwischte. Ralph Curtis versuchte, den
Sinn des Bildes zu ergründen, als er soeben an die Nachricht,
die er gefunden hatte, erinnert wurde, denn auf der Treppe vernahm
er dumpfe Schritte, die immer näher kamen. Die Türklinke
wurde sachte heruntergedrückt und die Tür wurde geheimnisvoll
geöffnet. Im Türrahmen standen zwei alte, runzlige Männer.
Von Panik erfasst, denn er sah die Zusammenhänge, wollte
Ralph Curtis zum Fenster herausspringen, stellte aber fest, dass
es zu hoch lag.
"Sie erleichtern uns die Arbeit, Mister?" spöttelte
der eine. Der andere packte Mr. Curtis mit einer Kraft, der er
nichts entgegenzusetzen hatte, und brach ihm gekonnt das Genick.
Gemeinsam schleppten sie den Leichnam nach unten, wo sie durch
die Hintertür im dunklen Gang verschwanden.
Ambrose Holloway fuhr in Richtung Norden. Er war Angestellter
bei der Firma Molton & Frew in London und hatte den Auftrag,
den verschwundenen Ralph Curtis zu suchen. Man hatte ein Telegramm
mit ungenauer Beschreibung der Lage von ihm erhalten. Ambrose
Holloway fuhr nicht gern auf reichbefahrenen Hauptstrassen und
fuhr nun durch eine einsame Gegend immer geradeaus. "Vielleicht
war auch Mr. Curtis hier durchgekommen," war sein Gedanke.
Er passierte einen Wald und nach einer Kurve befand er sich in
einem Dorf, wohl eines dieser Nestern, von denen es hier nur so
wimmelte. Das Gasthaus dort vorn war ihm willkommen, denn er war
durstig. Er bestellte ein Helles und fragte den Wirt nach Ralph
Curtis. Dazu zeigte er ein Photo. Ernsthaft und langsam antwortete
der Wirt: "Wir haben ihn umgebracht."
"Erzählen Sie mir doch keinen Quatsch," gab Ambrose
zurück. Der Wirt schwieg und Mr. Holloway trank aus und ging
kopfschüttelnd. Mr. Curtis' Auto sah er nirgendwo, also war
er weder lebend noch tot oder sonstwie hier. Er bog ab, weil er
eine Tankstelle erblickte. Er verlangte den Tankwart, der auch
erschien. Es war kein anderer als Ralph Curtis. "Hey, hallo,
Ralph. Was machst Du denn da als Tankwart? Endlich," meinte
Mr. Holloway glücklich.
"Guten Tag, Sir."
"Kennst Du mich denn nicht?" Aber der Tankwart nahm
das Geld entgegen und ging ins Haus. Mr. Holloway dachte, er müsse
der Sache auf den Grund gehen und wollte sich im Gasthaus ein
Zimmer nehmen. Er trug sich in ein Buch ein und sah den Namen
Curtis obendran geschrieben. Da rief der Wirt: "Ihr könnt
auch den Lebensmittelhändler abholen!" Verwirrt schaute
Mr. Holloway zur Hintertür, aus der mehrere Männer stürmten.
Ambrose Holloway spürte noch den Todesschlag im Genick. Von
da an hatte die unbekannte Ortschaft im Norden Englands, irgendwo
in Schottland, wieder einen Tankwart und einen Lebensmittelhändler,
doch es gab noch einige freie Arbeitsstellen.
Um die Kreuzung bog soeben ein roter Mini, beobachtet von Gesichtern
hinter Fenstern, und hinterliess eine tiefe Spur im Boden, die
wieder verwischt werden müsste. Das Auto hatte kein Öl
mehr und rauchte aus dem Motor. Aus den Fenstern schauten die
neugierigen Blicke auf den zukünftigen Strassenfeger herab.
Copyright © Dezember 1980, Wasty, Die seltsame Reise des Ralph C.
Originaltitel: Another place, another custom
231 Linien
Vorlesezeit: ca. 17 Min.
Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com
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