Wasty Präsentiert: Die Wahl Der Qualen

Das Gesicht im Spiegel

Es geschah in 1912 auf dem prunkvollen Grundstück der Millionärin Mrs. Le Neve. Die Geschichte war damals so unglaubhaft, so seltsam und erschreckend, aber doch wahr, dass sie niemand verstehen konnte und vor der Öffentlichkeit mit allen Bemühungen ferngehalten werden musste. Mit den Jahren ist trotzdem Stück für Stück der Wahrheit durchgesickert und sie ist für die fortgeschrittenen Menschen der heutigen Zeit wohl zu verstehen.

Wie jeden Morgen musste sich Mrs. Margery Le Neve überwinden, um aufzustehen. Mühselig streckte sie ihre Arme, wälzte sich hin und her und ächzte und gähnte. Durch einen Klingelknopf rief sie nach dem Butler, der auch gleich herkam. Sie trug ihm auf, das Frühstück ans Bett zu bringen. Danach schloss sie, von Müdigkeit befallen, die Augen und versuchte weiter zu schlafen.

Obwohl sie Witwe war, musste sie nicht arbeiten und konnte sich sogar eine grossartige Villa mit allem Luxus leisten. Sie hatte von ihrer Mutter ein Riesenvermögen geerbt und das Geld so in Aktien und auf Banken angelegt, dass es schnell mehr wurde. Von ihrem Mann her war sie jetzt auch noch Besitzerin einer einbringenden Möbelfabrik.

Bis gegen Mittag lag sie meistens im Bett und erst, wenn sie nachmittags Bekanntschaften pflegte, wurde sie richtig wach. Das aber nur nebenbei, um einen frühzeitigen und kurzen Einblick in ihren Tagesablauf zu erhalten.

Soeben trat der Butler mit einem silbernen Tablett ein und stellte es auf ein Tischchen neben dem Bett. Mrs. Le Neve nickte und der Butler durfte gehen. Während sie Brot, Eier und Schinken genoss, las sie die Zeitung von heute. Sie zahlte den Zeitungsjungen den doppelten Preis, damit er so früh wie möglich mit der Zeitung kam.
Es war nicht viel aufregendes los und sie konzentrierte sich mehr aufs Essen. Plötzlich sprang ihre Hauskatze, die schon drei Schönheitswettbewerbe gewonnen hatte, auf die Bettdecke und blickte Mrs. Le Neve erwartungsvoll an. Sie kraulte der Katze das glänzende, weiche Fell. Eigentlich fand sie, dass sie keine Zeit für die Katze hatte und wollte sie schon lange weggeben, doch sie brachte es nicht übers Herz, und ausserdem hatte sie schon dreimal eine hübsche Summe eingebracht und der nächste Wettbewerb fand schon bald statt. Die ohnehin schon dicke Katze bekam jetzt auch noch etwas von dem Käse ab und versteckte sich damit in einer Ecke des Zimmers.
Mrs. Margery liess die Reste wegräumen und widmete sich wieder dem Schlaf, der bei ihr meistens traumlos verlief. Überhaupt konnte sie sich nicht über Schlafstörungen beklagen. Sie musste weder Schlaftabletten noch andere Pillen einnehmen und verfügte über eine gute Gesundheit. Trotzdem verrichtete das Personal seine Arbeit leise. Eine seltene Stille lag über der Villa und dem Grundstück. Auch die Hausdiener sprachen nicht miteinander. Es schien, also ob etwas erwartet werde. Sogar Mrs. Le Neve träumte allerlei Verwirrtes, das sie in wachem Zustand nicht mehr erzählen konnte.

Ein wenig schwitzend wachte sie, von einem Dienstmädchen geweckt, auf. Die Angestellte half ihrer Herrin beim Anziehen und ging dann wieder ihrer restlichen Arbeit nach. Mrs. Le Neve las noch eine Seite in einem Buch. Das war eine Angewohnheit von ihr, die sie täglich auszuführen pflegte. Sie war der Meinung, dass sie so mehr vom Inhalt mitkriegen würde.
Nachdem sie einmal kräftig eingeatmet hatte, zog sie ihren Pelzmantel an und machte sich auf einen Spaziergang durch ihren eigenen Park.
Gleich vor der Tür war ein ausgedehnter Rasen. Der hintere Teil war für Golfspiele hergerichtet. Wenn es sie nicht stören würde, dass dann viele Fremde hier wären, hätte sie eine öffentliche Anlage mit Clubhaus bauen lassen. Mit ihrem Pudel spazierte sie mit gemässigtem Schritt über die Grünfläche.
Anschliessend folgte ein Wäldchen, das ihr Urahn Graf George Le Neve pflanzen liess und einen kleinen Teich beherbergte. Es bereitete Mrs. Le Neve Freude, durch das raschelnde Laub zu schlendern. Vor ihr tat sich ein baumfreier Platz auf und in der Mitte war der Teich, am Rand zum Teil mit Schilf bewachsen. Fischchen schwammen im klaren Wasser. Mrs. Le Neve beobachtete sie und sah ihr Gesicht auf der glatten Oberfläche. Sie stelle fest, dass sie wenigstens für ihre Begriffe ziemlich ungepflegt aussehe.
Der niedliche Pudel jaulte plötzlich auf und trottete auf drei Beinen umher. Mrs. Le Neve untersuchte das vierte und bemerkte, dass ein Dorn in der Pfote stak. Sie entfernte ihn. Sogleich beschlich sie ein unheimliches Gefühl; nicht wegen dem Hund. Sie war schliesslich einmal Arztgehilfin und den Anblick von Blut ertrug sie natürlich. So etwas machte ihr nichts aus. Sie wollte unbedingt aus dem düsteren Wald und trug sogar den Hund auf den Armen nach Hause, um schneller vorwärts zu kommen.

Sie bat den Butler, ihr einen Tee zu bringen und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, um sich zurecht zu machen. Sie kam heute einfach nicht weiter. Deshalb verzichtete sie auf ein Mittagessen, um Zeit zu gewinnen. Sie setzte sich an den Schmink- und Kosmetiktisch. Sie kämmte sich - ausnahmsweise selber - gründlich das Haar und puderte es nach. Dann nahm sie den Lippenstift zur Hand und begann sich zu schminken. Sie betrachtete sich im Spiegel, drehte den Kopf hin und her und lächelte zufrieden. Doch seltsamerweise machte das Spiegelbild die Bewegung nicht mit. Der Mund blieb blass und gerade. Ihre Augen weiteten sich. Ein Röcheln entrann der Kehle. Es splitterte, als wäre der Spiegel unter einer Spannung gestanden und die Katze sprang erschreckt über den Tisch in ihre Ecke. Döschen und Gläschen stürzten davon.

Mit einer Entschuldigung für die leichte Verspätung trat der Butler mit dem Tee ein. Er sah die regungslose Mrs. Margery Le Neve und einen zersplitterten Spiegel von dem eigentlich nur noch die hölzerne Rückwand an der Wand hing. Mit Hilfe des Doktors liess sich der Tod Mrs. Le Neve's feststellen.

Die Medien erwähnten den Vorfall schüchtern und nur nebenbei, denn keiner konnte ihnen genaue Auskunft erteilen. Es liessen sich nur von den wenigen Eingeweihten Vermutungen anstellen, die geheim bleiben mussten. Wer wollte damals schon wissen, dass sie keines natürlichen Todes starb?

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Copyright © November 1980, Wasty, Das Gesicht im Spiegel
Originaltitel: The face in the mirror
93 Linien
Vorlesezeit: ca. 5 1/2 Min.

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Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com

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