Wasty's Gruselkabinett 2

Der Arzt und der Patient

Soeben hatte Athelstan Wyck seinen Mantel sich umgehängt und ging zur Wohnungstür seines Apartments hinaus. Er schaute auf die Uhr. Es war schon 14:30 Uhr und um 14:45 Uhr musste er bei Dr. Charles Renfew sein, um die jährliche Gesundheitskontrolle lassen zu machen. Es war sein erster Besuch bei diesem Arzt, denn er war erst vor einem Monat von New York hierher nach Los Angeles gezogen und musste deshalb den Arzt wechseln. Jetzt hoffte er, das er keine Krankheit habe. Es war ihm schon ein bisschen mulmig zu Mute, denn er konnte sich diesen neuen Doktor nicht vorstellen. Zu diesem in New York hatte er ein ziemlich grosses Vertrauen gewonnen. Dieser dort hatte auch immer erklärt, was er gleich zu tun gedenke.

Athelstan hatte jetzt nur noch fünf Minuten Zeit und das Haus des Arztes war noch einige Strassen entfernt. Er beschleunigte seine Schritte. Recht ausser Atem kam er bei der Tür an. Er drückte den Klingelknopf und trat ins Wartezimmer ein. Er war der einzige dort. Im Wartezimmer roch es nach Desinfektionsmittel und das Zimmer war abstossend weiss gestrichen. Einige zerknitterte Zeitschriften lagen herum und eine schlecht gepflegte Pflanze stand in einer Ecke. Das Fenster zeigte in den Hof und er setzte sich davor um hinauszublicken. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte es ihn leicht. Dann öffnete sich die Türe und eine Praxishilfe in weissem Kittel erschien. Unfreundlich bat sie Mr. Wyck, ihr zu folgen. Sie führte ihn zur Praxis Dr. Renfews. Der Doktor, der ebenfalls einen weissen Kittel trug, war dicklich, hatte nur noch wenige, ungekämmte Haare und eine auffällige Nase. Er hiess Mr. Wyck mit einem Händedruck seiner schwieligen Hand und einem listigen Lächeln willkommen und wies auf einen Stuhl. Nachdem er die Personalien aufgenommen hatte, musste Athelstan sich oben freimachen und auf einem Liegebett Platz nehmen. Zuerst horchte er die Atmung und prüfte die Reflexe an den Knien, dann nahm er eine Blutprobe. Als der Doktor das Blut sah, schien er plötzlich nicht mehr so ganz bei der Sache zu sein. Er wirkte abwesend und entschuldigte sich schnell, bevor er zu einer Tür hinaus ging. Athelstan war es äusserst ungemütlich geworden. Er öffnete das Fenster, um frische Luft zu schnappen.

Unterdessen befand sich Dr. Renfew in einem Raum nebenan. Er nahm irgendeine Pille aus einem Schrank zu sich. Schon wieder war es ihm schwindlig und es kribbelte wieder einmal in den Fingern. So etwas kam in den letzten Wochen öfters vor und nachher wusste er nicht mehr, was er getan hatte. Hätte er es jemandem erzählt, wäre er seinen Beruf los gewesen.

Auch jetzt hatte er die Kontrolle verloren. Er nahm ein Skalpell von einem Tischchen, versteckte es in der Tasche und ging wieder zu seinem Patienten zurück. Als dieser den Doktor wieder sah, schloss er augenblicklich das Fenster und legte sich brav wieder auf das Bett.
Stumpf kam Dr. Renfew auf Mr. Wyck zu und sagte, dass er nun noch in den Rachen schauen müsste. Er fragte auch noch sinnloses Zeug wie, ob er die Mandeln herausoperiert hätte und ob er schon einmal Gelbsucht gehabt hätte.
Mit einer Taschenlampe schaute er ihm in den Mund, nickte zufrieden und drehte sich um. Athelstan sah nicht, wie Dr. Renfew das Skalpell aus der Tasche zog. Sonst wäre er sicher abgehauen und nie mehr zurückgekommen. Mit einer Hand hinter dem Rücken versteckt kam der Doktor wieder auf das Bett zu.

"Jetzt wollen wir doch noch nachschauen, ob ihre Wirbelsäule gerade ist. Könnten Sie sich auf den Bauch drehen?" liess er verlauten. Er hantierte an der Wirbelsäule herum, dann hob er das Skalpell in die Höhe und stiess es zwischen Mr. Wyck's Rippen. Nach einem erstickenden Schrei lag er bewegungslos auf dem Bett, weil er nämlich tot war. Der Arzt drehte die Leiche auf den Rücken, legte ihr die Arme kreuzweise auf die Brust und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Dann nahm er einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Verträumt betrachtete er die Leiche.

Als er nach einigen Minuten auf den Schreibtisch blickte, lag dort seine Agenda, in welcher die Konsultationszeiten vermerkt waren. Daraus entnahm er, dass der nächste Patient um 15:10 Uhr, das war in zehn Minuten, bestellt war. Da wurde ihm klar, was er angerichtet hatte und er war sich bewusst, dass er schuldig war. Nochmals ging er in das nebenanliegende Zimmer. Dort nahm er ein noch sauberes Skalpell und setzte sich wieder auf den Stuhl neben der Leiche. Ein letztes mal betrachtete er die Leiche, dann brachte er sich um. Polternd fiel er nach hinten vom Stuhl. Das Blut verfärbte den weissen Arztkittel.

Um 15:10 Uhr rief die unfreundliche Praxishilfe den nächsten Patienten, Mr. Phillys Scrubb, der an Knochenschwund lit. Mühselig schleppte er sich der absichtlich schnell gehenden Assistentin nach. Sie hielt ihm die Praxistüre auf ohne hineinzuschauen und schlug sie ungeduldig wieder zu.
Mr. Scrubb trat ein und erwartete, dass der Doktor auf einem Stuhl hinter dem Schreibtisch sitzen würde. Stattdessen sah er ihn blutüberströmt am Boden liegen. Er wusste sofort, das er tot war und humpelte so schnell er konnte zum Büro der Assistentin. "Schnell," rief er krächzend, "der Doktor ist tot!"
Die Praxishilfe eilte mit einer zweiten Angestellten, einer Putzfrau, die schon seit Jahren für Dr. Charles Renfew sauber machte, in die Praxis. "Was ist denn geschehen?" fragte die Putzfrau. Die Praxishilfe antwortete: "Wie jeden Tag liegt ein toter Patient, wahrscheinlich vom Doktor ermordet, auf dem Bett. Doch heute liegt auch unser lieber Doktor tot in der Praxis."

"Mr. Wyck," flüsterte eine sanfte, liebenswürdige Stimme, "wachen Sie auf. Es tut mir leid, aber der Doktor hat sich verspätet. Sie sind wohl hier vor dem Fenster eingeschlafen." Die Stimme gehörte zu einer freundlichen Praxishilfe in Cordhose und Bluse.

Dr. Charles Renfew, ein schlanker, gepflegter Mann mit Brille, etwa 29 Jahre alt, nahm Athelstan in Empfang.

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Copyright © Oktober 1980, Wasty und Whiskey, Der Arzt und der Patient
Originaltitel: The doctor is dead
85 Linien
Vorlesezeit: ca. 5 Min.

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Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com

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