Alessandra Overton beschleunigte ihre Schritte, denn es begann
zu regnen und sie hatte ihren Schirm zu Hause gelassen. Es war
fünf Uhr, das hiess Lärm, Stress und Gedränge,
denn es begann Stossverkehr in Stockport, einem Vorort von Manchester.
Alessy, so wurde sie von ihrem Mann genannt, schlängelte
sich durch die Menschenmasse. Vor einem guten Jahr wurde sie von
ihrer Tochter Mary auch noch so genannt, bis sie dann spurlos
verschwunden war. Trotz Vermisstenanzeigen und ausgesetzten Prämien
wurde sie noch nicht gefunden. Alessandra hatte das Verschwinden
noch immer nicht verkraftet. Sie hoffte täglich auf die Rückkehr
ihrer Tochter, die in sechs Tagen Geburtstag hätte. Auch
bezeichnete sie Mary als nur ihr Kind, weil sich ihr Vater doch
nicht um Mary kümmerte. Der hat nur seine Dogge "Harry"
und den Hundeverein im Kopf. Wöchentlich zweimal trafen sich
im Clubhaus die Hundeliebhaber des Ortes. Dort unterhielten sich
die Mitglieder über ihre Schützlinge, machten Ausflüge
und tauschen Erfahrungen mit Hunden aus. Im ganzen ein recht ausgefallener
Verein.
Die Ampel zeigte grün und Alessandra drängelte sich
weiter über den Fussgängerstreifen. War das ein Getümmel.
Jeder strebte nach Hause und einmal wurde sie angerempelt, wobei
ihr fast die in Geschenkpapier gewickelte Schachtel aus den Armen
fiel, in der sich ein grosser Knabberknochen für den Hund
befand. Denn Harry, die Dogge, hatte morgen Geburtstag und da
bekommt sie eben diesen Knochen. Stan, Alessandras Mann, will
ihn ihr schenken. Den ganzen Nachmittag suchte sie in vielen Metzgereien
nach einem geeignet grossen Knochen mit etwas Fleisch. Im letzten
Laden fand sie dann endlich den nach den Wünschen ihres Mannes
entsprechenden Leckerbissen.
Da vorne war die Busstation. Soeben fuhr ein Bus zu. Sie rannte,
weil sie noch einen Platz ergattern wollte und es heftig zu regnen
begann. Zu Hause angekommen, legte sie die Packung mit dem Knochen
auf das Kästchen in der Diele, damit Stan es, wenn er heimkommt,
gleich sehen würde. Sie hatte keine Lust, lange Worte zu
wechseln. Sie hätte lieber gewusst, wo ihre Tochter ist.
Nach kurzer Zeit kam dann ihr Mann zur Türe herein. Sogleich
sah er das Geschenkpaket. "Oh, vielen Dank," meinte
er ,"aber ich habe mir schon vor einiger Zeit vorgenommen,
den Hunden im Club etwas anderes zu spendieren. Zur Feier des
Tages hätten dann alle etwas davon. Ich werde Harry den Knochen
morgen zum Frühstück geben." Das war wieder einmal
typisch für Stan und Alessandra kochte vor Wut wegen diesem
Entscheid, aber sie liess es sich nicht anmerken. Das hätte
nur Ärger gegeben. "Wau, das wird ein Fest im Club.
Ich kann es kaum erwarten. Ich gehe nach dem Abendessen gleich
schlafen."
Alessandra hatte schon lange überlegt, ob sie sich scheiden
lassen sollte. Er wurde ihr langsam unerträglich. Abends
gab er sich höchstens mit dem Hund ab oder erzählte
vom Club. Nie hatte er Zeit für sie. So ging auch Alessandra
früh schlafen.
Am nächsten Morgen sass Harry schon neben dem Bett seines
Meisters und wartete geduldig, bis er aufwachen würde. Nachdem
Stan sich umgedreht hatte und die Augen aufschlug, begann der
Hund zu winseln. Sofort begrüsste Stan den Hund zum Geburtstag
und kraulte und streichelte ihn. Obwohl Alessandra wach war, zog
sie es vor, sich noch schlafend zu stellen. Stan nahm Harry mit
in die Küche und stellte das Geschenkpaket auf den Frühstückstisch.
Sogleich begann Harry zu schnüffeln und stand auf einen Stuhl.
Ganz zum Vergnügen Stans, der ein Marmeladenbrot genoss.
Harry nagte jetzt an der Verpackung und nach einer knappen Minute
lag der saftige Knochen vor ihm und fletschend verschlang er ihn.
"Alessy, Du bist heute nachmittag auch eingeladen in den
Club zu kommen. Es ist schon bald soweit und ich muss noch schnell
ins Tiefkühlhaus. Passe doch bitte in dieser Zeit auf Harry
auf. Ich möchte ihn nicht mitnehmen."
"Wie kann der nur wegen dem Hund so ausgelassen sein,"
dachte Alessandra, "wo doch Mary in fünf Tagen neunjährig
werden würde." Sie dachte wieder an Mary, wo sie jetzt
wohl sein könnte und was sie jetzt machte. Das Schliessen
der Türe unterbrach ihre Gedanken.
Mit einem grossen Bündel unter dem Arm kam Stan wieder. "Alessy,
behalte Harry doch schnell bei Dir. Ich muss sein Festessen verstecken.
Kann man bald essen?" "Ja, ja, ja." Das Mittagessen
schlang Stan nur so herunter und um die Zeit zu vertreiben, schlief
er noch ein wenig. Es schien, als ob er seine Nervosität
verbergen müsste.
Endlich war es Zeit zum Aufbruch und Stan ging mit dem Bündel,
das inzwischen aufgetaut war, schon voraus. Alessandra folgte
mit dem Hund etwas später. Er sollte keineswegs die Überraschung
frühzeitig riechen. Die Begrüssung im Club war recht
fröhlich; unter den Hundebesitzern wie unter den Hunden.
"Oh, Mrs. Sandeford, ihr 'Roul' ist aber schön gross
geworden. Wie steht es mit dem Zahnfleisch ihrer 'Lady', Mr. Dean?
Ah, welche Ehre, 'Queenie', hallo," sagte er zu einer Hündin,
die an Stan heraufstand. Wahrscheinlich roch sie das Fleisch.
Bellen vermischte sich mit Feststellungen über einzelne Hunde
und festlichen Begrüssungsworten, die in diesem Verein bei
einem Hundegeburtstag ganz normal sind. "Lasst und doch gleich
mit dem Fest beginnen," meinte Stan. Der Verein ging ins
Clubhaus, wo ein Tisch mit köstlichen Sachen schon bereitstand.
Sie nahmen Platz und die Hunde tummelten sich auf einem freien
Platz im Raum. Es waren sicher etwa achtzehn Hunde anwesend. "Lasset
uns auf das Wohl des Hundes Harry und dessen Besitzer anstossen.
Sie leben hoch! hoch! hoch!" sprach Mr. Pratt. "Vielen
Dank," erwiderte Stan an der Seite von Harry, "ich habe
auch noch eine Überraschung." Er packte das Bündel,
das er mitgenommen hatte, aus und ein grosser Plastiksack, mit
Fleisch prall gefüllt, kam hervor. "Hier, das ist für
euch. Da, Queenie, Bobby, Lady, Roul!" rief er und verteilte
die Fleischstücke unter die Hunde, begleitet von entzückenden
Rufen der Gäste. Alessandra, die sich bisher im Hintergrund
gehalten hatte, wurde plötzlich käsebleich. Flogen da
nicht blonde Haare an einem Stück Knochen durch die Luft?
Haare, wie sie Mary hatte? Und stand auf diesem Armkettchen, das
an einem Knochen mit Fleisch hing, nicht der Name MARY? "Neiiin!
Oh, nein! Stan, wie konntest Du nur! Du, Du,...! Musstest Du mir
so etwas antun!? Nein, nein!" Schluchzend brach sie zusammen.
"Ist das nicht eine gelungene Überraschung?" fragte
Stan die Vereinsmitglieder um sie abzulenken.
Genüsslich nagten die Hunde an den Armen, an den Beinen,
am Kopf und verspeisten schmatzend die Fleischstücke an den
mageren Rückenwirbeln. Die Vereinsleute kümmerten sich
um Alessandra Overton ohne zu wissen, was ihr fehlte.
Die Knochen schienen den Hunden nicht zu behagen, denn nach dem
Essen blieb das Skelett von Mary Overton übrig.
Copyright © Oktober 1980, Wasty, Hundefutter
Originaltitel: The birthday of a dog
101 Linien
Vorlesezeit: ca. 5 1/2 Min.
Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com
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