Wasty's Gruselkabinett 2

Messer und Gabel

Es war ein strahlender Freitagmorgen als Carlo und sein Bruder Antonio Benedretti ihre Rucksäcke packten. Sie wollten das Wetter an diesem verlängerten Wochenende ausnützen, indem sie sich eine Bergwanderung vorgenommen hatten.
Carlo war 24 Jahre alt und Antonio erst 19. Carlo hatte eine Liste aufgestellt auf welcher die Sachen aufgeschrieben waren, die mitgenommen werden sollten. Diese ging er jetzt mit seinem Bruder durch. "Ich glaube, wir haben alles. Petroleumlampe, Kleidung, Esswaren, Seile..." zählte Antonio auf. "Ausserdem sind wir auch froh, wenn die Rucksäcke nicht so schwer sind. Wir müssen nämlich noch das Zelt tragen." Damit hatte er recht. Sie hatten tatsächlich im Sinn, dort oben zu übernachten. Auch mussten sie damit rechnen, dass es dort auf 2500 Metern über Meer sehr kalt ist oder vielleicht wird dort auch noch Schnee liegen.
Auf jeden Fall befanden sie sich immer noch in feinstem Sonnenschein zu Hause in ihrer Junggesellenwohnung in Sora, einem kleinen Städtchen etwa gleich weit von Rom wie von Neapel entfernt, und checkten nochmals alles durch. Es schien ihnen alles in Ordnung zu sein. Sie konnten also starten. In wenigen Minuten würde der Zug fahren. Deshalb machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof. An Carlos Seite trabte brav ein Schäferhund namens Nero. Er war sehr zutraulich. Auch wenn es Carlos Tier war, mochte es Antonio genauso. Der Hund sollte die beiden begleiten. Seine gute Spürnase würde sie im Notfall führen. Zudem tat dem Tier die gesunde Bergluft sicher gut.
In der Ferne tauchte der Bahnhof auf. Das Stationsschild glänzte silbern in der Sonne, die Bäume leuchteten in den schönsten Grün und Vögel zwitscherten und flogen umher; wahrlich ein wunderbarer Frühlingstag für eine Bergtour.
Die drei Naturfreunde hatten inzwischen den Bahnhof erreicht. Ausser dem modernen Billettautomaten war alles recht alt und liess erahnen, dass die Station ziemlich unwichtig war. Die Dachstützen waren morsch und auf dem Dach wuchs Moos.
Sie hatten Glück, der Zug fuhr soeben ein. Sie stiegen ein und machten es sich bequem. Sie konnten ihre Vorfreude nicht verbergen. Aufgeregt schauten sie zum Fenster hinaus. Der Hund winselte und wedelte mit dem Schwanz.
Nach eineinhalb Stunden Fahrt durch anfänglich vertraute Gegend waren sie angekommen. Sie marschierten danach sofort los. Bis jetzt waren die Wege noch gut markiert und gut ausgebaut. Carlo wanderte voraus, hinter ihm ging, das Zelt tragend, Antonio und zu hinterst trottete Nero. Trotz der geringen Steigung gerieten sie mit ihrer Last ins Schwitzen.
Nach langen Stunden des Wanderns und Klettern hatten sie einen idealen Lagerplatz gefunden. Da schon der Abend anbrach, schlugen sie ihr Zelt auf. Sie waren hundemüde und schliefen sofort ein nachdem sie ein Abendessen aus Büchsen verspeist hatten. Sie träumten von diesem herrlichen Tage. Vor Freude, dass sie das Meiste noch vor sich hätten, schliefen sie nicht sehr tief.

Ein neuer Tag brach an. Schon um halb sechs Uhr weckten die Sonnenstrahlen die drei. Verschlafen erhoben sie sich und reckten und streckten sich. Frohen Mutes gingen sie Holz suchen und nach wenigen Minuten brutzelten auf der imitierten Pfanne aus Holz und Aluminium zwei Spiegeleier. Ein köstliches Frühstück im Freien. Auch Nero bekam seinen Anteil, nämlich einen Happen Fleisch. Mit gut gefülltem Magen packten sie zur Weiterreise. Diesmal trug Carlo das Zelt und Antonio neben Nero voraus. Weit oben erblickten sie Gemsen und einen Adler, der imposant zum Sturzflug ansetzte; für die beiden Dorfbewohner nichts Neues, denn sie waren schon als Kinder mit ihrem Vater öfters in den Bergen gewesen. Trotzdem staunten sie darüber. Sie waren inzwischen schon auf 1800 Metern und konnten auf eine weite Ebene Italiens herabschauen. Sie waren Stolz auf Italien und auf ihre Wanderleistung. Sogar Nero wedelte freudig mit seinem Schwanz. Ganz einsam hier oben versuchten sie ihr Dorf zu sehen, was aber nicht möglich war. Schliesslich erinnerte Carlo daran, dass heute noch ein rechtes Stück vor ihnen läge und drängte zur Eile. Antonio blickte zum Gipfel empor, konnte ihn aber nicht sehen und gab seinem Bruder recht.
Inzwischen waren sie ein grosses Stück des Weges vorangekommen, als sich die ersten Wolken vor die Sonne schoben: ein Wetterumschlag, der in den Bergen ohne Vorwarnung von Minute zu Minute da sein kann. Die drei ahnten das Gewitter und beeilten sich noch mehr. Vielleicht würden sie einen Unterschlupf finden.
Als der erste Blitz auf einen gewaltigen Donner folgend niedersauste und den Regen mit sich brachte, wurde es den dreien doch ein bisschen ungemütlich. Sie zogen ihre Regenjacken über und liefen weiter. Ihre gute Laune war dahin. Sie wechselten nun mit dem Tragen des Zeltes öfters ab, fluchten leise bis sie eine halb zerfallene Alphütte am Wegrand sahen. Nero rannte bellend voraus, aber es wurde vom Regen übertönt und auch Carlo und Antonio lieferten einen Endspurt. Der Regen prasselte so dicht nieder, dass man sich kaum noch erkennen konnte.
Ihr Eifer bekam einen Dämpfer als sie feststellten, dass die Tür verschlossen war und keiner in der Hütte wohnte; wer sollte auch auf 2100 Metern wohnen? Doch vor dem Haus war ein vom Dach gut geschützter Platz, wo sie sich niederliessen und eine Zwischenmahlzeit zu sich nahmen. Der Regen wollte überhaupt nicht aufhören. Man sah das auch an den zerknirschten Gesichtern. Das erste mal auf diesem Ausflug kamen sie sich verlassen und einsam vor, bis Nero zu bellen begann und sich in den Regen hineinstürzte. "Nero! Was soll das? Komm zurück!" rief Carlo, wurde aber vom Prasseln des Regens übertönt. Im selben Moment schälten sich der Hund und eine Gestalt aus der Regenwand. Die Gestalt, die Nero entdeckt hatte war ein älterer grosser Mann in neueren, modernen Kleidern. Er steckte in einem mattglänzenden Mantel deren Material Haar zu sein schien. Es fielen sein wohlgenährter Bauch und die Zähne auf. Carlo und Antonio waren erstaunt, hier oben einen Menschen anzutreffen und Nero liess sich von dem Fremden kraulen. Nach einiger Begrüssung lud der Mann sie in das Dorf ein in dem er zu wohnen angab. Er sprach mit einem eigentümlichen Dialekt, der sehr alt klang. Sein Stamm schien schon seit Generationen hier zu leben, aber die Benedrettibrüder hatten noch nie davon gehört. Sie wollten sich überraschen lassen und folgten dem lächelnden Mann. Der Regen hatte nachgelassen.
Vor ihnen tauchten Rauchsäulen auf; das Dorf war nahe. Noch ein kleiner Hügel und hinter dunkelgrünen Tannen lag ein kleines, aus einfachen Holzhütten bestehendes Dorf. Die Einwohner hatten fast hundeförmige Köpfe und die gleichen seltsam auffälligen Zähne - was daran so schrecklich auffällig war merkten sie nicht - wie der, der sie gefunden hatte. Er war wohl der Oberste der Sippe. Als er Carlo und Antonio ins Dorf brachte, leckten sich alle die Munde, oder Mäuler, und hüpften umher. Das wirklich Schreckliche begriffen die beiden Brüder einfach nicht, es kam ihnen nur unheimlich vor. Das Dorf bot wahrlich einen unheimlichen Anblick: Kleine Kinder tollten auf Händen und Füssen springend umher, Frauen rührten eine dampfende Brühe in einem rostigen Kochkessel an oder webten Haare zu Stoff und Männer sassen vor ihren Hütten, die an hölzerne Indianerzelte erinnerten, und schnitzten Figuren und Werkzeuge aus beigem Material. Misstrauisch traten die Wanderer in die Mitte des Dorfes wo ihnen sogleich eine Behausung zur Verfügung gestellt wurde. Von listigen Augen beobachtet betraten sie ihre Hütte. Nero winselte, weil es nach Fleisch roch. Sogleich wurde ihnen ein Tablett mit feinsten, pflanzlichen Esswaren gereicht. Obwohl diese Wesen bisher sehr nett - fast zu nett - waren, kamen den beiden das Verhalten und Aussehen dieser schon merkwürdig vor. Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, schliefen sie sattgegessen ein. Draussen schien der Mond. In zwei Tagen würde Vollmond sein und damit ein gewisses Dorffest stattfinden.

Durch ein verzerrtes Hundegeheul wurden die Gäste geweckt. Sofort wurde ein reichhaltiges Frühstück von einer Person mit gierig leuchtenden Augen serviert. Sogleich kamen zwei Jäger mit ihrer Beute, einem Reh, aus dem Wald zurück. Das Wild blutete an der Kehle und ihre Zähne und die Lippen waren rot verschmiert, was Antonio und Carlo aber nicht sahen. Sie stellten sich vor die Hütte und streckten sich der Sonne entgegen. Nachher, als sie gegessen hatten, merkten sie, dass Nero nicht mehr hier war. Sie suchten und riefen ihn, bis sie ein Bellen vernahmen und in der entsprechenden Richtung ihren Hund fanden. Er war in einer Hütte bei einer Frau und trank eine rote Flüssigkeit. Was Carlo auffiel war die Nagelfeile in der Hand der Frau, der weisse Stab daran und die zugeschliffenen Zähne von Nero. Carlo und die Frau blickten sich stur an, dann fragte Carlo verwirrt: "Was erlauben sie sich eigentlich? Komm Nero!" Widerwillig folgte ihnen der Hund.
In der Hütte packten sie gleich ihre Sachen zusammen und machten sich zum "Bürgermeister" auf, wo sie erklärten, dass sie weiter müssten und für die Gastfreundschaft dankten. Der andere lächelte nur listig.
Kaum waren sie am Rand des Dorfes gelangt, versperrten ihnen mehrere Männer mit steinzeitlichen Speeren den Weg. "Geht doch zur Seite, wir wollen weiter," bat Antonio. Aber die Männer machten keine Anstalten zurückzuweichen, sondern trieben sie in ihre Hütte zurück. Den Hund behielten sie bei sich.
Mit einem Knall wurde die Türe geschlossen und ein Riegel vorgeschoben, dann entfernten sich die Männer zufrieden schlurfend.
"Verdammt! Wir sind eingeschlossen, wir sind gefangen!" fluchte Carlo. "Verstehst Du das? Hast Du schon einmal solche seltsame Wesen gesehen? Obwohl sie uns nicht von hier weglassen und auf der einen Seite unfreundlich sind, geben sie uns doch sehr viel zu Essen und passen auf uns auf." "Am besten warten wir ab," beschwichtigte Carlo, obwohl er eine grausame Ahnung hatte und legte sich auf den Boden um zu schlafen. Antonio biss in einen saftigen Apfel und setzte sich an die Wand. Beide vermissten Nero.
Nachdem sie einige Stunden gedöst hatten, ging die Türe auf. Das rote Licht der Abenddämmerung fiel herein und davon hob sich eine Gestalt ab, die eine Schüssel mit Esswaren brachte und anordnete, nochmals tüchtig zu essen. Dabei grinsten sie vor Vorfreude und spitz zugeschliffene Zähne kamen zum Vorschein. Carlo und Antonio lief eine Schauer über den Rücken. Sie hatten Angst und glaubten, wahnsinnig zu werden.
Aufgebracht legten sie sich schlafen. Der Mond schien hell durch ein kleines Fenster. Morgen würde Vollmond sein. Morgen würde auch Montag sein, und Dienstag würde die Arbeit wieder beginnen. Sie dachten an alles andere. An ihr Schicksal konnten sie nicht denken. Als sie am nächsten Morgen aufwachten stand schon eine Platte voll Obst vor ihnen; die Tür blieb verschlossen. Um nicht denken zu müssen, schliefen sie weiter.
Nach einiger Zeit wurden sie durch Lärm geweckt. Es herrschte reges Treiben draussen. Antonio spähte durch das kleine Fenster in der Hütte und beobachtete. Auf dem Dorfplatz lag ein Holzhaufen und überall rannten Leute umher. Was ihm auffiel waren ihre spitz geschliffenen, raubtierscharfen Zähne. Es waren wohl Vorbereitungen im Gange. Es gab keine Möglichkeit zu entrinnen. Wieder legten sie sich schlafen.
Als sie erwachten, lagen sie auf feuchter Erde neben dem Holzstapel und waren gefesselt. Der Vollmond stand hell leuchtend am Himmel und beleuchtete die sich anbahnende Szene, unheimlich. Rundherum sammelten sich die Männer und Frauen. Ihre scharfen Zähne stachen weiss hervor. Der anfänglich so nette Mann schritt mit einer Fackel zwischen Antonio und Carlo durch und entzündete das Holz. Flammen züngelten und den beiden wurde es heiss. Die Angst brachte sie schon fast vorher um. Ihre Lage erinnerte an Fleisch auf einem Grill.

Jeder Einwohner hatte einen Teller und Besteck vor sich liegen. Mit einem schauerlichen Sing-Sang erhoben sie sich und begannen, um das Feuer und die zwei Personen zu marschieren. Das Ritual begann...
Dann kreischten sie kindisch: "Wir nehmen das Messer in die eine Hand; wir nehmen die Gabel in die andere Hand. Wir haben Hunger; wir essen gerne." Nochmals trat der Mann hervor; mit einem Messer in der einen und einer Gabel in der anderen Hand und begann, die gebratenen Leichen zu zerteilen und zu servieren. Sie erlebten nicht mehr, wie ihre Mägen wie gefüllte Gans serviert wurde, wie das Blut ein wärmendes Getränk war und wie der Rest schmatzend gegessen wurde.

Sie hatten spitze Zähne und blickten mit gierigen Augen.

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Copyright © Juli 1980, Wasty, Messer und Gabel
Originaltitel: With knife and fork
207 Linien
Vorlesezeit: ca. 14 Min.

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Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com

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