Der Wagen drohte ins Schleudern zu geraten und die Reifen wirbelten den trockenen Strassenstaub in die Höhe. Die Bremsen kreischten und der Fahrer brachte sein Fahrzeug noch vor dem Zebrastreifen zum Stehen. "Verdammt!" fluchte er, "der hat's aber eilig. Kann natürlich wieder mal nicht auf'n Verkehr schauen!" Der achtlose Fussgänger rettete sich auf den sicheren Gehsteig und nickte dem Fahrer entschuldigend zu. Der Fussgänger hatte es sehr eilig und war unachtsam auf die Strasse gelaufen. Der unbekannte Fahrer gab kopfschüttelnd wieder Gas und fuhr gleich unvorsichtig weiter, wie der andere den Kopf gesenkt weiter eilte. Dieser andere nahm sich aber doch die Zeit auf seine Armbanduhr zu blicken: sechs vor sieben! Er strengte sich noch mehr an; nur noch zwei Strassen! Es wäre also noch zu schaffen!
Er öffnete, es war vier vor sieben, die Glastür des
modernen Gebäudes und stürmte ins erste Stockwerk. Erleichtert
stellte er fest, dass die Bibliothek "Johnson's Bücherverleih"
noch geöffnet hatte. Hinter einem Tisch, der mit Stapeln
von Büchern übersät war, äugte eine ältere,
korrekte Dame hervor, die sich hörbar räusperte, weil
ein Besucher die Schuhe schon wieder nicht abgetreten hatte. Mit
einem Turm Bücher auf dem Arm trat sie aus ihrem Versteck
hervor und begann, sie in die Regale einzuordnen. "Einen
schönen Abend Mister Finch," meinte sie und aus ihrem
Tonfall entnahm er, dass er sich beeilen sollte. Sein Blick streifte
die Regale mit den Romanen und blieb darauf daneben auf denjenigen
mit den Kriminalgeschichten haften. Die grellroten Einbände
der Taschenbuchausgaben lockten ihn sofort an. Er pickte zwei
solcher schwarz beschrifteten Büchern heraus. Er legte sich
die beiden zur Seite und nach weiterer Suche bemerkte er einen
Band von einem Autor dessen Namen er noch nie gehört hatte.
Das Buch war mit einem gelben Einband versehen und dies sagte
ihm, dass auch der Verlag und die Reihe, der es angehört,
unbekannt seien. So etwas reizte ihn, besonders weil es zerknittert
und gebraucht aussah und trotzdem schon längere Zeit unberührt
in der Sammlung zu weilen schien. Voller Spannung steckte er die
drei Bücher in seine Tasche und ging zum Bürotisch,
der schon von den meisten Büchern befreit war. Die Bibliothekarin
kam bald angeschnauft und Arthur Finch streckte ihr seine Karte
entgegen. Sie drückte drei Stempel hinein und reichte sie
ihm mit einem Blick zurück, der ihr Missfallen an der schmutzigen
und zerknitterten Karte deutlich zum Ausdruck brachte. "Auf
Wiedersehen und einen recht angenehmen Abend," sagte er ironisch,
zwinkerte der alten Dame zu, die sich darüber empört
zeigte, und zog es dann vor, sich schnell aus dem Staube zu machen,
um aus ihrer Reichweite zu sein. Er ging gelassen und vorsichtig
über sämtliche Strassen und begann nicht wie sonst schon
auf dem Heimweg zu lesen. So erreichte er auch ohne Zwischenfall
die Wohnung in der 17th Avenue im siebten Stock eines mittleren
Wolkenkratzers. Die kräftigen Strahlen der Sonne drängten schon durch die Ritzen der Rolladen und als Arthur Finch die schlaftrunkenen Augen aufschlug wurde er sofort ganz wach: Er hatte das Läuten des Weckers nicht gehört! Der Wecker stand still und unschuldig auf dem Tischlein und verriet ihm gutmütig, dass die Verspätung nur gering sei. Er würde mit etwas Glück doch noch rechtzeitig zur Arbeit kommen. Auf dem kurzen Weg zum Badezimmer rief er erschrocken aus: "Nicht einmal die Wohnungstür habe ich abgeschlossen!" Erbarmungslos und schrill ging seltsamerweise der Wecker doch los und Arthur zuckte heftig zusammen; er war vom Lesen so überreizt, dass er zu früh erwacht war. Sowas war ihm noch nie passiert. Den ganzen Tag lang war er nervös und zerstreut. Voller Spannung las er nach der Arbeit in seinem Buch weiter bis es fast zu Ende war. Er freute sich, dass er morgen einen freien Tag hatte und ging, um die Spannung zu erhalten, trotzdem zu Bett anstatt das Buch noch schnell fertig zu lesen. Er warf es auf sein Nachttischchen neben die beiden grell schimmernden Krimis. Dabei flatterte eine Seite heraus, die er sogleich wieder in das verlotterte Buch einordnete. Es war nicht eine der letzten Seiten, wie er feststellte. Dann löschte er das Lämpchen aus.
Er erwachte kurz vor mittag, nahm aber doch noch ein Frühstück
ein, bevor er einkaufen ging. Er kaufte sich ein Mittagessen zusammen,
das er nicht lange zu kochen brauchte und ass es gemütlich
zu Hause. Nachdem er abgewaschen hatte, liess er sich im Wohnzimmer
wohnlich nieder und nahm die letzten Seiten seines Buches genüsslich
in Angriff. Die Spannung hatte schon fast den Höhepunkt überschritten
und der Mörder sollte bald entlarvt werden. Wer würde
es wohl sein? Er tippte auf den Kellner, da sein Bruder als Butler
beim Herrn, der ermordet wurde, angestellt war und dadurch einige
Umstände auszuspionieren vermochte. Der Herr wiederum stand
in Verbindung mit dem... Jedenfalls regte dies Arthur's Phantasie
an und er genoss solche Augenblicke der Spannung am Ende eines
Buches bevor er durch den Schlussatz von den Personen im Buch
verbannt wird und keine Aussicht bestand, von dieser Welt mehr
zu erfahren. Es missfiel ihm aber, ja, er hasste es buchstäblich,
wenn diese so wichtige letzte Seite ganz gemein vom Buch entfernt
wurde. Gerade das war nämlich der Fall und wenn erst noch
der Name des Mörders auf dieser allerletzten Seite geschrieben
war, dann hasste er es besonders. Er ging über den strafenden Blick hinweg und setzte zu der kühnen Frage an: "Entschuldigen Sie, Ma'am, ich äh..." "Ja, bitte, Mister Finch?" "Ja, ich habe doch am Montag ein Buch mit dem Titel 'Das Dritte Glas' entlehnt. Jetzt musste ich leider feststellen, dass darin die letzte Seite fehlt, auf der herauskommt, wer denn nun endgültig der Mörder war. Ich dachte, vielleicht wüssten Sie, wer es denn nun war." "Sie meinen, den Mörder in 'Das Dritte Glas'? Tut mir leid, damit kann ich Ihnen dienen, aber ich kann heraussuchen, wer das Buch schon gelesen hat. Moment - das waren in letzter Zeit nur zwei - nämlich - ich hab's gleich - ach, ja da..." Sie gab ihm die Adressen zweier Männer. Er notierte sie sich. "Ich bin mir fast sicher," sagte sie, "dass die Seite schon fehlt seit wir das Buch haben. Auf Wiedersehen, nun, Mr. Finch." "Oh, auf Wiedersehen und vielen Dank," sagte er deutlich. "Ade, Du Spinatwachtel und halt' die Ohren steif," flüsterte er bei sich. Er hörte ihr Räuspern nicht mehr, denn er eilte schon zur ersten Adresse, der 19th Avenue, weil sie die nähere war. Ausnahmsweise genehmigte er sich ein Taxi und gelangte bald ans Ziel. Er war in bester Stimmung.
Es war ein beiges Haus mit braunen Rolläden. Nach sechzehn
Treppen hatte er den Gesuchten gefunden. Er war ein junger Mann
mit einer Brille und wirrem Haar. Er steckte in einem Wollenpullover
und weiten Jeans. Arthur Finch erklärte ihm den Grund des
Besuchs. Nach einer Weile angestrengtem Nachdenkens hellte sich
das Gesicht des Mannes auf. Er erinnerte sich an das Buch. Er
bestätigte allerdings, dass die Seite fehlte, als er es schon
las. Leider kenne er den Namen des Mörders auch nicht und
es täte ihm leid, dass er nicht weiterhelfen könne.
"Na dann, schönen Dank auch und auf Wiedersehen."
Die zweite Adresse führte ihn in eine Gegend mit regem Betrieb.
Dazu kam, dass bald Feierabend war und alles nach Hause strebte
und sich keiner sonst Gedanken um einen unbekannten Mörder
machte. Copyright © Juli 1981, Wasty, Auf der Suche nach dem Mörder
P.S. An die Leser! Ihnen kann ich's verraten wer's ist. Es ist ja ungeschickt, wenn eine wichtige Seite eines Buches fehlt. Also, der Mörder ist Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com |