Es war ein nebliger Vormittag. Die Einwohner von Bradford gingen ihrer Arbeit nach. Der Rentner William Andrews pflanzte Erdbeeren und pfiff vor sich hin. Eine Lok fuhr in den Bahnhof ein. Vögel zwitscherten auf der alten, knorrigen Linde neben dem Galgen und warteten. Sie hatten Hunger. Der Stammtisch in der Eckkneipe war bis auf einen Platz besetzt. Die Männer dort waren alle arbeitslos und vertrieben sich die Zeit mit Trinken. Es wurde getrunken und gelacht. Nur einer war heute wieder einmal nicht da: Mike Peters. Er war wie immer, wenn er seinen Kummer nicht im Glas ertrinken liess, an seinem Lieblingsplatz. Sein Lieblingsplatz war der Galgenhügel. Er hockte dort neben der alten Linde, die Zeuge mancher Hinrichtung war und verzerrt war, als hätte sie unter den vielen Hinrichtungen gelitten, auf einem Fass, das schon oft seinen Zweck erfüllt hatte. Im allgemeinen mieden die Bradforder die makabre Stelle, denn sie wollten nichts damit zu tun haben. Mike Peters bildete die Ausnahme. Aber eigentlich war er gar nicht aus Bradford. Als seine Eltern gestorben waren, beschloss er, durch die Welt zu ziehen bis er hier hängengeblieben war. Immer wenn der Nebel den Hügel umschloss, so dass keiner auf die Spitze dessen sehen konnte, besuchte er das Gerüst. Dort, von Nebel umschlossen, fühlte er sich geborgen.
Fasziniert schaute er auf den ausgedienten, brüchigen Strick,
der sich im leichten Wind sanft hin und her wiegte. Der Nebel
hinderte ihn, ins Dorf hinab zu schauen. Das Dorf, in dem er eigentlich
nicht bleiben wollte. Er wusste, wie ihn der Galgen lockte, das
war bedrohlich für sein Leben, das er sich anders vorstellte
und das er hoffte, anders verlaufen würde. Darum wollte er
bald weiterziehen. Jetzt war er ganz allein und in Gedanken versunken:
"Wie wäre es wohl, diesen Strick um den Hals zu spüren?".
Er überlegte, dass er dann mit dem Galgen zusammenwäre.
Den Galgen als sympathischen Freund. Er erhob sich und rollte das Fass unter das Gerüst. Er blickte sich nochmals um - alles dichter Nebel. Starr stand die Linde. Trotz des Windes bewegten sich ihre Blätter nicht und man vernahm kein Säuseln. Dann stand er auf das wackelige Fass und ergriff den Strick. Etwas rollte dumpf im hohen Gras. Er hatte das Gefühl, als schwebe er. Er spürte einen sanften, gleichmässigen Druck um den Hals. Wie leicht er sich fühlte. Nebelschwaden schlichen um den Hügel. Am nächsten Morgen wollte William Andrews nach seinen Erdbeeren schauen und trat, dem leichten Nebel entgegen, in den Garten. Er entdeckte auf seinem Erdbeerbeet ein zersplittertes Fass (William Andrews wohnte am Fusse des Galgenhügels). Es hatte unter den frischen Pflanzen nur geringen Schaden angerichtet. Das Fass musste wuchtig aufgeprallt sein, es konnte also nur vom Hügel herabgerollt sein, dachte er sich. Über die Unordnung in seinem Gartenbeet leicht verärgert, warf er das Holz auf den Holzhaufen für die Heizung. Er überlegte, wie das Fass wohl in Bewegung geraten war. Es kam eigentlich nur der Wind in Frage. Er blickte zum Hügel empor. Leichter Nebel umsponn ihn. Er wusste auch, dass ein alter Galgen, von hier aus nie sichtbar, auf dem Hügel stand. Es war ein nebliger Vormittag. Die Einwohner von Bradford gingen ihrer Arbeit nach. Der Rentner William Andrews pflanzte Erdbeeren und pfiff vor sich hin. Eine Lok fuhr in den Bahnhof ein. Vögel zwitscherten auf der alten, knorrigen Linde neben dem Galgen und machten sich flugbereit. Heute mussten sie keinen Hunger leiden. Copyright © 1979, Wasty, Sympathie für den Galgen
Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com |