Ein grosser Mann in schwarzem Mantel stieg in seinen dunkelblauen
Ford. Er gab Gas und steuerte auf eine Fussgängerin zu...
Es war Mittag. Mrs. Emily West kochte soeben das Mittagessen für sich und ihren Mann, der eigentlich bald von seiner Arbeit als Automechaniker heimkommen sollte. Die Wests waren hier neu eingezogen und hatten noch keine Bekanntschaft mit den Nachbarn geschlossen. Sie waren einfach 'die neuen im 4. Stock'.
Ihr Mann brachte einen anständigen Lohn heim von dem sie
recht viel auf die Seite taten, denn sie wollten später ein
eigenes Haus kaufen. Sie legte den Stapel Post auf den Küchentisch und begann den Stapel durchzusehen. Zu oberst lagen zwei Prospekte, die für irgendwelche Haushaltsgeräte Werbung machten, dann folgte die Tageszeitung: '73-jährige von Auto überfahren. Täter geflohen.' stand als Schlagzeile gedruckt. "Grässlich. Hoffentlich wird er bald gefasst", dachte sie sich und entdeckte zwischen der Zeitung einen Fetzten Papier ohne Anschrift. Darauf stand: 'Ihr Mann ist ein Mörder. Er hat eine alte Dame überfahren. Sehen sie sich vor, sonst ergeht es ihnen auch noch so. Ich meine es nur gut mit ihnen. Die Nachbarn' Sie erschrak erst über diesen sozusagen anonymen Brief und empörte sich heftig. Sie dachte sofort an Mrs. Sheer, die sie im Treppenhaus gesehen hatte und die sich gegenüber ihr so seltsam benommen hatte. Seit sie hier wohnen schien sie etwas gegen Mr. West zu haben. Sie schikanierte ihn andauernd und jetzt war ihre grosse Chance gekommen. Sie würde es fertig bringen, der Polizei einen Tip zu geben... Inzwischen war Mr. West heimgekommen und freute sich aufs Essen. Er war sorglos und Mrs. West erzählte es ihm nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte ihn unterrichtet. Er hätte dann mit Mrs. Sheer sprechen können. Am Nachmittag wurden auf allen Radiosendern Kommentare und Beschreibungen des Autos und des Täters durchgegeben. Mrs. West stellte das Radio ab. Im oberen Stock hörte sie gemeine Beschimpfungen und kühne Behauptungen. Emily nahm ihren Mantel und ging nach draussen, da es in der Wohnung nicht auszuhalten war. Sie ging in die Garage um eine kleine Ausfahrt zu machen. Das sah sie an ihrem blauen Ford, der ihr Mann billig aus der Autowerkstatt heimbrachte, eine Beule und ein zerschlagenes Licht vorne an der linken Ecke. Zweifel kamen in ihr auf. "Ich will damit nichts zu tun haben. Soll es Eddie selber ausbaden", meinte sie und wusste nicht, was sie nun machen soll. Im 5. Stock öffnete sich ein Fenster. "Glauben Sie mir jetzt? Ich meine es wirklich nur gut mit Ihnen. Wenn Sie wollen, können Sie heute bei mir übernachten. Sicher ist sicher.", rief Mrs. Sheer. "Danke", murmelte die andere. Sie konnte es einfach nicht glauben. Ihr war zum Heulen zu Mute. So gewöhnlich wie immer kam abends Mr. West heim. Er hatte einen neuen Arbeitstag hinter sich und war damit ihrem Haus ein wenig näher gekommen. Das freute ihn. Beim Nachtessen las er die Zeitung. "Schrecklich, so etwas", meinte er unbeteiligt. "Das musst gerade Du sagen", dachte sie sich. "Ach, übrigens habe ich heute eine Beule an unserem Wagen entdeckt. Du hast mir davon gar nichts erzählt", klang es herausfordernd. Ganz natürlich, ohne nervös zu werden, antwortete ihr Mann: "Ach das, ich habe es ganz vergessen, Dir zu erzählen. Vorgestern war ich beim Parkieren gegen einen Pfosten gefahren. Ich werde es gleich morgen reparieren lassen. Aber - warum fragst Du so seltsam?". Er starrte auf die Zeitung. "Glaubst Du etwa ich hätte... Also hör mal das da geschah gestern und der Wagen, das war vorgestern. Das ist gar nicht möglich". "Aber die Mrs. Sheer hatte doch - ich meine, sie...". "Ja, Liebling?". "Ach, nichts". Ihre Stimme versagte. "Ich bin ganz sicher unschuldig! Das glaubst Du doch auch?". "Ja - ja". Nach einer schlaflosen Nacht, in der sie hin und her überlegt hatte und zu einem Entschluss gekommen war, stieg sie einen Stock höher zu Mrs. Sheer. Sie erzählte ihr alles vom letzten Abend. Nach einer längeren Unterhaltung kamen die zwei Frauen zum Entschluss, die Polizei anzurufen. Mrs. West fing an, Mrs. Sheer sympathisch zu finden und sie war ihr dankbar für ihre Unterstützung. Ein Mörder ist ein Mörder, auch wenn es mein Mann ist, sagte sie sich und rief die Mordkommission an. Dabei kam heraus, dass Mrs. Wilson vom Parterre schon früher der Polizei eine Tip gegeben hatte. Den Tip, Mr. West festzunehmen. Zwei Beamte hätten sowieso heute vorbeikommen wollen, hiess es. Danach war es ihr sehr unwohl und sie legte sich den ganzen Morgen hin.
Beim Mittagessen lag eine lustlose, fast feindselige Stimmung
über den beiden. "Ich konnte unser Auto noch nicht flicken
lassen", begann er ein Gespräch. "Schade. Ich wünschte,
Du hättest es. Es wäre noch eine Möglichkeit für
Dich gewesen.". "Wie meinst Du das?". "Warte
ab". Tagelange Verhörte folgten. Schliesslich ein Brief an Mrs. West: 'Wir bedauern sehr für Sie, aber Ihr Gatte scheint schuldig zu sein. Er kann seine Unschuld nicht beweisen. Verschiedene Anwälte bemühten sich vergeblich um ihn. Die endgültige Verhandlung findet am 20.7. statt. Wir bitten Sie, anwesend zu sein.' Sie ging zu Mrs. Sheer, die sie liebevoll zu trösten versuchte. Alles schien wie ein Traum. Schliesslich fand die Gerichtsverhandlung statt... "Der Angeklagte wurde für schuldig befunden. Das Urteil lautet: Tod durch den elektrischen Stuhl."
"Ich war es nicht! Ich bin unschuldig!", schrie er.
Seine Frau berührten diese Worte nicht. Mit ihrer neuen Freundin
Mrs. Sheer ging sie nach Hause. Noch am selben Abend stieg ein grosser Mann in seinen dunkelblauen, verbeulten Ford. Er drehte den Zündschlüssel um und gab Gas. Die Reifen quietschten. Er startete soeben seine zweite Amokfahrt.
Neuauflage, Copyright © April 1980, Wasty, Tödlicher Irrtum
Last updated February 12, 2001 by Martin Mathis, e-mail lastbandit.com |